Kindheit

Ich dachte immer, ich hätte eine schöne Kindheit gehabt.
Wäre da nicht so ein kleiner Wermutstropfen:

Vorsicht: Triggergefahr!

Konni- warum ?

Ich breche das Tabu

von

Margit Ricarda Rolf

Der Himmel war sternenklar. Es war kalt und windstill. Seine (Konni´s) Schuhe knirschten bei jedem Schritt und ich war noch sehr müde. Um diese Zeit mochten meine kleinen Füße ihren Dienst noch nicht so recht aufnehmen, und mein Großvater Konni nahm mich auf die Schultern. Neben mir gingen mein kleiner Bruder und meine Mutter. Mami und Opi unterhielten sich über die Sterne am Himmel. Sie zeigten uns den großen Wagen und den Nordstern.

Der Weg war sehr weit, jedenfalls aus der Sicht meiner kleinen Füße. Wir mussten zur U-Bahn Langenhorn Nord, und weil so etwas für eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern allein um fünf Uhr früh zu gefährlich war, begleitete mein Großvater uns. Es war ein Schotterweg. Er glitzerte schwarz im Licht der Sterne. Ich kannte seine Bestandteile genau. Nahm man den Schotter in seine Hände, dann konnte man winzige Rubine und Smaragde entdecken. Manchmal sammelte ich sie. Erst viel später begriff ich, dass die herrlich glitzernden Steinchen zerstoßene Wein- und Bierflaschen waren, die man hier wiederverwertet hatte. Aber mit drei oder vier Jahren sind solche Dinge noch nicht wichtig.

Wir hatten die Hälfte der Strecke hinter uns. Schade, denn jetzt musste ich laufen, und mein kleiner Bruder würde oben auf Opi´s Schulter sitzen dürfen. Opi hob mich herunter, und dabei strich er mit seinem Daumen über meine Scheide. Ich hatte zwar ein Höschen an, er berührte mein Geschlechtsteil nie direkt, aber er tat es bei jeder Gelegenheit. Und er hatte sehr oft Gelegenheit dazu.

Wir besuchten meine Großeltern häufig und blieben oft über Nacht. Sie hatten einen Fernseher – wir nicht. An den Wochenenden fuhren meine Eltern mit uns zu ihnen. Es lief eine Serie, die man den Straßenfeger von Deutschland nannte. Richard Kimble – Auf der Flucht. Wir Kinder wurden irgendwann früh in das Bett unserer Großeltern gesteckt. Es war ein Alcoven mit Blümchenvorhängen. Meine Großmutter Anni war eine sparsame Frau, nahe an der Grenze zum Messi. Sie sparte auch an der Heizung. Daher rochen die alten Federbetten muffig und nach Mottenkugeln. An den Fenstern krochen Eisblumen hoch und ich wurde in ein viel zu großes Nachthemd gesteckt.

Opi sagte uns gute Nacht und gab uns einen Kuss auf die Wange. Ich war clever und legte die Arme stocksteif links und rechts neben meinen Körper auf die schwere Bettdecke. Dadurch gelang es mir fast immer, ihn schnell loszuwerden. Einmal griff er trotzdem unter die Bettdecke, erwischte aber nur das Nachthemd. Eine entspannende Atmosphäre, die ein Kind zum Einschlafen braucht, war das jedenfalls nicht. Ich habe schon mein ganzes leben lang Schlafstörungen. Vielleicht ist das die Ursache dafür.

Meine Großeltern lebten in einer Schrebergartenkolonie, wie viele Menschen in der Nachkriegszeit, hatten die kleine Hütte ausgebaut. Es gab Strom, der Fernseher, Kühlschrank und elektrisches Licht ermöglichte. Nur einen Wasseranschluss hatten meine Großeltern nicht. Das war aber nicht weiter schlimm, denn ihr Garten lag direkt neben einer alten Handpumpe. Das Wasser schmeckte scheußlich, weil es so eisenhaltig war. Aber die Erwachsenen behaupteten, dafür würde der Kaffee besser schmecken als anderswo.

Meine Großeltern hatten auch viele Tiere, Hühner, Enten, Kaninchen und eine extrem bissige Hündin namens Senta, die in einem Zwinger lebte und einen Maulkorb trug, wenn Opi mit ihr spazieren ging. Uns Kindern hatten es besonders die Kaninchen angetan. Jedes Jahr, wenn die Kaninchen Junge bekamen, waren wir von den Ställen nicht wegzubringen. Dann begleiteten wir Opi auch zum Gras schneiden an den Bach. Wir durften die Tiere abends mit versorgen.

Auch hierbei pflegte mein Großvater mich in den Arm zu nehmen, mir einen Kuss auf die Wange zu geben, und mich scheinbar flüchtig am Geschlechtsteil oder am Busenansatz zu berühren. Manchmal tat er es auch nicht. Es war nicht genau kalkulierbar, und wenn lange nichts passiert war, fühlte ich mich einigermaßen sicher. Meistens beschränkte ich mich darauf, mich aus seiner Umarmung zu winden.

Es ist schwer zu sagen, wie oft es zu solchen Übergriffen kam. Ich erinnere mich nur an einige konkrete Ereignisse, die ich visuell vor Augen habe. Vielleicht haben andere Ereignisse nicht stattgefunden, oder ich habe sie verdrängt. An sich mochte ich meinen Großvater schon gern. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die sich Zeit für Kinder nahmen. Und er war ein wahrer Geduldexperte. Nichts wurde ihm zuviel.

Mit fünf Jahren hatte ich mir in den Kopf gesetzt Fahrrad fahren zu lernen. Omi hatte ein großes schwarzes Damenfahrrad. Mein Großvater hatte es mühsam aus diversen alten Rädern zusammengebaut. Sitzen konnte ich darauf nicht. Ich musste im Stehen fahren. Mit unendlicher Geduld hielt Opi das Rad am Sattel fest, und rannte stundenlang neben mir her. Wollte ich mich doch einmal etwas ausruhen und setzte mich einen Moment auf den Sattel… Es ist besser im Stehen zu fahren. Dann passiert auch nichts.

Vieles, was ich heute kann, habe ich von meinem Großvater gelernt. Hatten die jungen Angorakaninchen ein bestimmtes Alter erreicht, dann wurden sie tätowiert. Normalerweise sind Kaninchen stille Zeitgenossen. Aber beim Tätowieren quieken sie so laut, dass die Kinderschar aus der gesamten Nachbarschaft herbeiläuft. Mit zwölf Jahren war ich schon eine richtige Tätowierassistentin. Packte ich ein Kaninchen im Genick, dann gab es kein Entrinnen mehr. Ein Griff an Ohren und Genick, den Stummelschwanz nach hinten gezogen, dann war klar, Rammler oder Zippe, Anton oder Antonia; das eine Öhrchen für die laufende Nummer, das andere für den Zuchtstall, pieken quietschen, blaue Farbe auf die Tätowierung schmieren und zurück in die Kiste. Deckel drauf – sonst gibt es eine Kaninchenjagd im Kleingarten – und die hatten wir mit den kleinen Biestern ja erst, als wir mal wieder die Stalltür nicht richtig verschlossen hatten. „Ejejejejej!“, was war Opi da böse. Und Omi erst, als sie die kleinen Braten in ihrem Salat entdeckte.

Apropos „Braten“. Omi war eine fantastische Köchin. Niemand konnte eine Tomatensuppe mit Markknochen zubereiten wie sie. Ihr Kohlrabi aus eigenem Garten, diese wunderbaren Kartoffeln, ihr Kaninchenbraten – und die Soße erst! Als der Hahn geschlachtet wurde, hat Omi uns eingesperrt. „Das ist nichts für Kinder!“ Opi hat seine Axt genommen und den Kopf abgeschlagen. Der Hahn war damit nicht einverstanden. Er lief ihm ohne Kopf davon und kam immerhin vom Holzklotz bis zur Hecke des hinteren Nachbarn. Das hätten wir Kinder doch zu gern gesehen. Was wir tatsächlich durch die Ritze der Holzwände sehen konnten waren Ausschnitte von Omi´s Kittel, die immer „Fang ihn doch“ schrie. Vom Hahn keine Spur.

Bei den Hennen stellten sich meine Großeltern nicht so sehr an. Wir durften zwar nicht beim Schlachten zusehen, aber beim Ausnehmen der Hühner durfte ich helfen. Man musste so etwas sehr behutsam machen, nicht nur wegen der Galle. In so einem Huhn steckt eine Menge Rührei. Die Eierschale gleicht eher einer dünnen Membran und verwenden kann man alle Eier bis etwa Pingponggröße. Opi zeigte mir jeden Handgriff. Da war ich etwa zwölf.

Die schönste Arbeit war aber immer noch das Scheren. Mit der elektrischen Schermaschine über die Angorakaninchen zu sausen, das macht richtig Spaß. Man darf nicht zu tief gehen und darf das Kaninchen nicht verletzen. Blutige Angorawolle kauft keiner. Die kleinen Biester sind dabei ziemlich quirlig, man muss sie gut festhalten und wenn man die Bauchpartie schert, muss man sich vor den Hinterläufen in Acht nehmen.

Skat, Schach, Domino, Mau-Mau, Halma – das alles habe ich in den langen Abendstunden und an regnerischen Wochenenden von meinem Großvater gelernt, natürlich auch von meiner Mutter – aber die hat´s ja schließlich auch von ihm.

Mein Großvater war ein einfacher Mann, obwohl er sehr belesen war. Im Krieg hatte er sich erst durch Lothringen geschlagen. Als Elsaß-Lothringer kamen ihm seine Französich-Kenntnisse zugute, und er kam nicht in französische Gefangenschaft. Nachdem er sich bis nach Deutschland durchgeschlagen hatte, kam er sofort wieder an die russische Front und geriet dort in russische Gefangenschaft. Auch hier hielt er sich nicht lange auf. Zurück in Deutschland begann er im Tiefbau. Er verließ das Haus sehr früh und kam gegen fünf Uhr heim. Wir Kinder holten ihn gern von der Bahn ab. Er ließ sich immer dazu überreden uns Kindern ein Eis zu kaufen, uns und der Horde Kinder, die wir im Schlepptau hatten. Ein Kind nahm er dann auf seine Schultern. Je älter ich wurde, umso weniger mochte ich auf seinen Schultern sitzen. Irgendwann zwischen meinem zwölften und dreizehnten Lebensjahr sprach ich mit meiner Mutter über die Situation.

Vorweg gegangen war eine Geschichte für die ich mich schämte. Mein Großvater hatte einen Rammler zu einer Zippe auf den Rasen gesetzt unter einen Drahtkorb. Der Rammler näherte sich der Zippe und begann an ihrem Geschlechtsteil zu lecken. Ich setzte mich in die Hocke, weil ich so etwas noch nie gesehen hatte. Mein Großvater sah das und legte von hinten seine Arme um mich. Ich fragte: „Was machen die da?“ – „Die zeugen Nachwuchs. In sechs Wochen gibt es Junge. Sie wirft jetzt schon das fünfte Mal und ist eine gute Mutter.“ Dabei strich er mir wieder über meine Scheide und ich ging nicht weg, weil ich neugierig war. Im gleichen Moment schämte ich mich dafür und war wütend auf mich. Ich schwor mir: das war das letzte Mal! So war es auch.

„Geh ihm aus dem Weg, hörst du? Geh ihm einfach aus dem Weg. Sorg dafür, dass du nicht mit ihm allein bist,“ riet meine Mutter mir. – „Das geht nicht“, antwortete ich. „Er ist immer mal wieder mit mir allein.“ Meine Mutter wurde wütend, aber wohl mehr auf sich selbst. „Und ich habe ihm gesagt: wehe du fasst meine Tochter an! Ich zeige dich an!“ – „Wieso hast du das zu ihm gesagt?“ – „Weil er es mit mir und meiner Schwester auch gemacht hat! Ich hätte nie gedacht, dass er es wagen würde.“

Ich befolgte den Rat meiner Mutter und ging Opi aus dem Weg. Mit dreizehn ging ich dann zu den christlichen Pfadfindern und verbrachte meine Freizeit zunehmend mit ihnen oder mit gleichaltrigen Freundinnen. Ich sah meine Großeltern seltener und meine Beziehung zu meinem Großvater wurde distanzierter.

Als ich meine Großeltern einmal besuchte, machten Opi und ich einen Spaziergang mit dem Hund. Omi rief uns zu: „Bring das Brot von den Leuten am Bach mit.“ Es war für die Kaninchen bestimmt. Also machten wir auf dem Weg einen kleinen Abstecher. Die Leute hatten das Brot in Plastiktüten gesammelt. Es gab dort auch ein Mädchen von etwa sieben Jahren. Opi nahm sie in den Arm, gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte: „Na, mein Sabinchen…“ Sie trug nur einen Badeanzug. Er strich ihr mehrmals mit dem Daumen über den Busenansatz und sie hielt einerseits still, versuchte andererseits sich aus seinen Armen zu winden. `Mit der macht er es also auch`, schoss es mir durch den Kopf. Ich drehte mich abrupt um und verließ das Grundstück. Es war mir peinlich einen solchen Großvater zu haben!

„Mami, er macht es noch immer. Er macht es auch mit fremden Mädchen.“ – „Und? Was erwartest du jetzt von mir? Dass ich meinen eigenen Vater anzeige? Hast du dabei auch mal an Omi gedacht? Ist es das wert, dass alle Leute mit dem Finger auf uns zeigen? Es ist doch auch eigentlich nichts passiert, oder? Du bist doch noch Jungfrau, oder hat er dir mal was getan?“ – „Ich bin noch Jungfrau. Das ist nicht das Problem.“ Sie verstand mich nicht. Wenn nicht einmal meine geliebte Mami mich verstand, wer dann?

Ich habe diesen jemand gefunden. Mit 21 Jahren habe ich ihn geheiratet und mit 24 Jahren bekam ich eine Tochter.

Mein Mann und ich waren uns einig. Für ihn war das gar keine Frage. Zu meinen Großeltern würden wir mit

unserer Tochter nicht fahren! Wir wollten beide, dass sich diese Geschichte nicht von Generation zu Generation fortsetzt. Meine Großmutter war unglücklich darüber, dass wir sie nie besuchten. Aber wir blieben eisern, bis die Goldene Hochzeit kam, auf die sie nun schon seit Jahren gespart hatte.

Ich wich meiner kleinen Tochter nicht von den Fersen. Auch mein Mann behielt sie ständig im Auge und Mami natürlich auch. Wir waren in permanenter Alarmbereitschaft. Dann begann Opi mit den Kleinen Hoppe-Reiter zu spielen. Ich ließ seine Hände nicht aus den Augen. Wahrscheinlich ist nichts passiert. Ich habe meine Tochter, als sie älter war, gefragt. Sie versicherte mir, es sei nie etwas passiert. Das wird wohl stimmen.

An jenem Tag jedoch, während der Hoppe-Reiter-Spiele machte ich eine scheinbar beiläufige Bemerkung über Sexualität mit Kindern. Opi lächelte und meinte: „Kinder haben ihre eigene Sexualität.“ Er musste es ja wissen. Wahrscheinlich rechtfertigte er damit sogar seine Handlungsweise

Als ich 34 Jahre alt war ging ich mit meiner Mutter, wie so oft, am Strand spazieren und wir landeten wieder bei diesem Thema. „Ich verstehe nicht, dass dich das heute noch belastet. Das ist doch Jahre her. Mich belastet es doch auch nicht mehr.“ Wie sollte ich es ihr erklären.

„Mami, es hat mein Leben beeinflusst, die Beziehung zu meinem Mann, einfach alles. Es hat meine Sexualität beeinflusst. Lange bevor ich Sex mit einem Mann hatte, kannte ich meinen Körper bereits ganz genau. Während andere kleine Mädchen nachts in ihren Betten schliefen, habe ich masturbiert, manchmal bis in die frühen Morgenstunden. Am nächsten Tag war ich unausgeschlafen und erschöpft. Ich bin in einem so zarten Alter mit diesem Thema konfrontiert worden, dass ich mich einfach nicht so entwickelt habe wie andere kleine Mädchen.

Manchmal hatte ich meine Hände zwischen meine Beine gelegt und sie hin und her bewegt. Dabei hatte ich mir vorgestellt ein Fischlein schwämme dort oder ich wäre unter einer Kuh festgebunden und das Euter würde meine Scheide berühren. Diese kindlichen Vorstellungen,

die ich etwa zwischen meinem vierten und siebten Lebensjahr gehabt haben muss, zeigen deutlich, dass ich von Geschlechtsreife weit entfernt war und mit diesem Thema noch gar nichts anzufangen wusste.

Mit zehn Jahren hatte ich Techniken zum Masturbieren entdeckt, die auch mein kleiner Bruder mitbekam. Ich rieb mein Geschlechtsteil am Waschbecken. Mein kleiner Bruder fragte: „Was machst du da?“ – „Keine Ahnung, aber es macht Spaß. Musst du auch mal probieren.“ Er versuchte es. Da ein Junge aber anders gebaut ist als ein Mädchen, muss es höllisch wehgetan haben. „Du spinnst ja“, war sein Kommentar. Er war sauer auf mich.

Bis heute verstehe ich nicht, warum mich diese Geschichte völlig anders beeinflusst hat, als meine Mutter. An ihr scheint das vorüber gegangen zu sein. An ihrer Schwester nicht. Aber darauf komme ich noch.

Kurz bevor mein Großvater starb, besuchten wir ihn dann doch noch einmal. Er fiel ständig um, war nur noch eine Handvoll Mensch und hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten. Wie immer nahm ich ihn zum Abschied in den Arm und er gab mir einen Kuss auf die Wange. Es tat mir von Herzen weh ihn so zu sehen, schwach und alt. Er würde ganz sicher niemandem mehr wehtun und ich war in der Lage ihm zu vergeben. Ich begann wieder ihn so zu sehen, wie ich ihn als Kind gesehen hatte, als er stundenlang mit mir übte einen Nagel mit der Rückseite einer Axt mit nur einem einzigen Schlag im Hauklotz zu versenken. Auch das hatte er mir beigebracht.

Von seinem Tod erfuhren wir erst am Tag seiner Beerdigung. Als wir aus dem Urlaub kamen – einem der wenigen – lag die Einladung zur Beerdigung im Briefkasten. Selbst wenn wir uns hätten hinbeamen können, wären wir wohl zu spät gekommen. Meine Mutter soll am Grab zusammengebrochen sein. Wieso?

Dafür hatte sie selbst keine Erklärung. Ihr sind die Füße weggesunken und sie bekam einen Heulkrampf. Sie mussten sie mit zwei Leuten auffangen und stützen.

Mit 43 Jahren musste ich völlig überraschend ins Krankenhaus. Blinddarmdurchbruch. Als es mir besser ging, bekam ich eine interessante Zimmernachbarin für zwei Tage. Aus ihren Reden entnahm ich, dass sie eine bestimmte religiöse Überzeugung hatte, aber sie wollte nicht recht raus damit. Unmöglich konnte sie zu ihren Ansichten allein gekommen sein. Schließlich gab sie zu, den anonymen Alkoholikern anzugehören. Sie sei aber keine Alkoholikerin, sondern litt an Fresssucht und Sexsucht. Das sind spezielle Gruppen bei den AA´s. Mir war das völlig neu.

Diese Frau erzählte mir, dass sie als Kind sexuell missbraucht worden sei und jetzt als Erwachsene den Trieb verspürte ebenfalls mit Kindern Sex haben zu wollen. Als dieser Trieb so stark wurde, dass sie eine ernste Gefahr für sich und die Kinder sah, hat sie sich nach Hilfe umgesehen. Ich fragte sie, ob sie vergewaltigt worden sei. Nein, sie sei nur unsittlich berührt worden, aber auch das sei sexueller Missbrauch.

Ich erzählte ihr von der Geschichte mit meinem Großvater. Zu meiner großen Überraschung wurde sie wütend. „Wachen Sie auf, Margit! Was Ihnen passiert ist, ist sexueller Missbrauch! Das ist weder harmlos, noch irgendwie zu entschuldigen. Überlegen Sie doch mal. Wie lange haben sie nachts in Ihrem Bett gelegen? Und andere Kinder waren ausgeschlafen. Sie hatten nie die Chance die körperliche Liebe so zu entdecken wie andere Frauen. Und was ist mit dem Orgasmus? Können sie sich einem Mann hingeben? Oder empfinden Sie ihn eher als Störfaktor? Sind Sie beziehungsfähig?

Du meine Güte! Die hatte Nerven.

Ich kannte sie vielleicht vier Stunden – und dann so ein Thema. Aber sie hatte Recht. Sie sprach Themen an, die mich jahrelang beschäftigt hatten. Sie brachte es auf den Punkt. Es war Missbrauch – sexueller Missbrauch.

In meiner Mobbingberatung habe ich festgestellt, dass jede 7. Frau, die zur Beratung kommt ähnliche Erlebnisse in der Kindheit hatte wie ich. Sich nicht abgrenzen zu können und sexueller Missbrauch – da bestehen Zusammenhänge. Das Verrückte an der Geschichte ist, dass ich ein Kolle-Kind bin. Wir sind die aufgeklärte Generation!

Meine Mutter hat schon früh angefangen mich aufzuklären – nicht etwa mit Bienchen und Blümchen, sondern mit dem Buch: „Woher kommen die kleinen Jungen und Mädchen?“

Als im Stern ein Artikel erschien über den Sexualmord einer Zweijährigen durch einen Nachbarjungen, nahm sie dies zum Anlass mit mir über Triebtäter, Vergewaltigung und Mitschnacker zu sprechen. Damals war ich sieben. Ich konnte mit ihr über alles reden. Bis zu ihrem Tod konnte ich immer mit ihr über alles reden.

Dennoch waren weder sie noch ich in der Lage mit diesem Problem umzugehen. Es ist und bleibt ein Tabu – eine peinliche Geschichte. Wenn ich sie veröffentliche, beschmutze ich mein Nest, das Nest meiner Familie. Und so etwas tut man nicht, sollte man nicht tun – oder sollte man? Ist das eine Frage von Mut oder Zivilcourage? Die habe ich und die hatte auch meine Mutter!

Dann ist da noch meine Tante, die die ganze Geschichte nicht so weggesteckt hat. Das ist eine böse Geschichte.

Meine Tante hat einen Sohn, den ich nur bei meinen Großeltern sah. Er war nicht ganz normal, ein Spinner. Ständig suchte er Streit, zerstörte alles und irgendwas stimmte mit seinen Augen nicht. Sie waren groß und weit und immer ganz traurig. Obwohl ich ihn einerseits mochte, war er mir andererseits nicht ganz geheuer. Ich ging ihm lieber aus dem Weg.

Meine Tante war Erzieherin und sagte meiner Mutter ständig, was sie in unserer Erziehung alles falsch machte. In unserer Familie waren wir uns einig. Wenn jemand Kinder nicht erziehen konnte, dann waren das Erzieher.

Vor ein paar Jahren traf ich meinen Cousin wieder. Mein Bruder hatte mir erzählt, er wäre von seinem Vater sexuell missbraucht worden. Ich bekam hier möglicherweise eine Erklärung für die traurigen Augen. Ich hatte das Bedürfnis meinem Cousin zu sagen, dass wir damals als Kinder nichts von dem Missbrauch gewusst haben.

Einmal beim Abtrocken hatte ich zwar etwas aufgeschnappt. Omi erzählte meiner Mutter, sie sei darauf zu gekommen als der Vater meines Cousin am Geschlechtsteil des Babys gespielt habe. Dieses Schwein hätte sie aber zusammengestaucht. Sowas! Mehr wusste ich nicht.

„Wieso hat dir deine Mutter nicht geholfen?“ wollte ich wissen. „Die? –Weißt du was der Alte gemacht hat? Wir waren sein Eigentum! Schon mit zwei Jahren hat der Analverkehr mit mir gemacht. Meine Mutter lag im Ehebett daneben und hat nichts gemacht. Mit fünf hatte sich der ganze Darm nach außen gestülpt. Da hat man mich gefragt, ob ich sexuell missbraucht werde. Ich hab nix gesagt. Der Alte hätte uns alle umgebracht. Heute bin ich schwul, habe einen Freibrief und bin unzurechnungsfähig. Keine Fragen mehr, oder?“

Ich hatte eine glückliche, unbeschwerte Kindheit. So habe ich es immer empfunden.

Verbunden mit der Natur, aufgewachsen mit Großeltern, die immer für mich da waren, mit Kaninchen zum Kuscheln, Kirschen und Pflaumen vom Baum, Hundebabys von Senta, den guten Braten von Omi. Das waren noch Zeiten – so ganz ohne Tütensuppen.

Wäre da nicht so ein kleiner Wermuthstropfen.

Konni – warum?

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